Achtklassspiel "Über den Fluss"
Mit der zweistündigen Inszenierung des Schauspiels „Über den Fluss“ von Christoph Steins gelang es der 8. Klasse mit Regisseurin Stella Seefried, eine anspruchsvolle Geschichte über Menschen auf der Flucht und die Meinungen, die ihnen entgegenschwappen, authentisch und berührend auf die Bühne des grossen Saals zu bringen – eine Aufführung, die im Gedächtnis bleibt, eine beeindruckende Leistung aller Beteiligten.
Im Vordergrund stehen drei Tische mit Vasen, im Hintergrund ein Tresen mit Radio und Telefon, Spirituosen, Geschirr und Kaffeekannen. An der Wand hängt eine grosse Landkarte, darauf ein Fluss, „Stük’sche Fähre“ steht darüber. Daneben gibt es eine alte Porträtaufnahme eines Paares, Orin und Gilda verrät ein Schriftzug, ausserdem Bilder aus der weiten Welt von Schiffen und Kamelen. Am rechten Bühnenrand ein Kleiderständer und ein Regal voller Gegenstände wie Schwimmwesten und Seile, am linken Bühnenrand gibt uns das Schild „Zur Fähre“ auf einer Tür einen weiteren Hinweis darauf, wo wir uns befinden. Wir sind in einer Fährstation – an einem Ort, an dem man sich trifft, auf die Fähre wartet, Kaffee oder Schnaps trinkt, seine Gefühle in Worte fasst und seine Meinung kundtut besonders zum alles bestimmenden Thema: Der Grenzfluss, über den die „Stük’sche Fähre“ schon seit mehreren Generationen zuverlässig fährt, ist das Tor für Menschen auf der Flucht geworden, die sich nach einem würdevollen, sicheren Leben auf dem diesseitigen Ufer sehnen. Im Zentrum der Geschichte steht eine Familie rund um den Fährmann Valea, seine Frau Nikela, deren Schwester Pesche und Oma Gilda. Und dann sind da noch…
Windige Figuren
… Dorian in „Schlips und Weste“, ein regelmässiger Gast im Café der Fährstation. Er gibt sich weltmännisch, froh über das, was er hat – an Besitz und Status. Von seinen Reisen als Vertreter bringt er nicht nur die neueste Mode, sondern auch unterhaltsame Geschichten mit, die er zum Besten gibt. Eigentlich hat er nichts gegen geflüchtete Menschen, sie sollen nur weit genug wegbleiben, möglichst in Lagern „am Rande der Wüste“.
… Schleuser Sidal: Immer wirkt er verfolgt, nervös, gehetzt, mit weit ins Gesicht gezogenem Hut, Fingern, die auf den Tisch klopfen, zuckenden Füssen, einem Schnaps, der schnell hinuntergeschüttet wird. Er versucht den Fährmann Valea zu überreden, mit seinem Boot einer Gruppe fliehender Menschen über den Fluss und damit illegal über die Grenze zu helfen. Doch Sidals „Hilfe“ hat einen bitteren Beigeschmack: Mit dem Leid der Menschen verdient er sich ein ganz ordentliches Sümmchen dazu. Die Hälfte davon soll Valea bekommen, wenn er in das Geschäft einsteigt.
… die drei Polizisten und zugleich Grenzschützer Dunja, Viktor und Basil, deren Gruppe in sich schon widersprüchlich ist und zum Teil entgegen ihrer persönlichen Empfindungen die staatlichen Anordnungen umsetzt, die fliehenden Personen am besten gar nicht über den Fluss kommen zu lassen. Besonders die Figur Viktor zeigt seine Menschlichkeit hinter der Funktion des Grenzschützers immer mehr im Verlaufe des Stücks.
Ein Sturm an Meinungen
All diese Perspektiven und Ansichten sammeln sich in der Fährstation und arbeiten in der Fährmannsfamilie. So geraten „der Fährmann und seine Familie in das Spannungsfeld zwischen moralischem Verantwortungsgefühl, Obrigkeitstreue und Selbsterhaltungstrieb“, wie es im Programmheft heisst. Wo Oma Gilda recht klar die Meinung vertritt, es sei wichtig, „auch mal gegen den Strom zu steuern“, und gegen den Grenzschutz stichelt, sind besonders Valea, seine Frau Nikela und deren Schwester Pesche hin- und hergerissen: Helfen und ihre Lizenz und eine Strafe riskieren, Helfen und das Geld von Sidal annehmen, Helfen und das Gewissen beruhigen, Helfen und Gutes tun oder Nicht-Helfen und der Obrigkeit gehorchen, Nicht-Helfen und alles beim Alten belassen, Nicht-Helfen und …
Böige Gefühle
„Es ist natürlich herausfordernd, diese Stimmung rüberzubringen und sich in die Charaktere hineinzuversetzen“, sagt Regisseurin Stella Seefried. Dennoch fiel die Wahl der Achtklässler*innen klar auf das Schauspiel von Christoph Steins. „Uns gefällt, dass es tiefer geht und etwas anspruchsvoller ist. Ausserdem hatte es die beste Rollenaufteilung“, erklären die Schüler*innen.
Neben dem vorherrschenden Thema der „Flüchtlingsproblematik“ schrieb Christoph Steins, langjähriger Lehrer an der RSSK, über „Leben und Tod und persönliche Beziehungen und zum Beispiel, was passiert, wenn ich, wie im Fall des Mädchens Pesche und ihren zahlreichen Verehrern, nicht sagen kann, was ich will. Ich habe das Stück in erster Linie für die 8. Klasse geschrieben und dafür gesammelt, was die 14-Jährigen in der Welt interessiert“. Er bezeichnet „Über den Fluss“ als „Nachdenkstück“: „Es wird nicht eine Position als die Richtige gezeigt, vielmehr soll es dazu anregen, sich mit den verschiedenen Meinungen auseinanderzusetzen“.
Ganz ohne grosses Unwetter
Mit diesen Meinungen beschäftigten sich die Achtklässler*innen intensiv: Eine Woche nach den Osterferien begannen die Proben am Vormittag, nach den Pfingstferien wurde täglich von morgens bis in den Nachmittag geübt. Dabei profitierten die Schüler*innen davon, dass sie schon im letzten Jahr den „Sommernachtstraum“ zusammen mit Stella Seefried inszeniert auf die Bühne gebracht hatten. „Es war viel einfacher reinzukommen, obwohl man die Stücke nicht vergleichen kann“, berichten die Schüler*innen. Auch Stella Seefried ist zufrieden: „Sie haben darauf aufgebaut, besonders sprachlich merkt man das. Alle sind vorbereitet in die Probezeit gestartet, waren von Anfang an textsicher. Es hat viel Spass gemacht und viel Freude. Wir hatten eine sehr gute Zeit“. Über ihre Regisseurin geraten die Jugendlichen geradezu ins Schwärmen: „Sie ist echt cool! Es war eine richtige Zusammenarbeit, nicht wie Lehrerin und Schüler*innen. Wir durften unsere Ideen einbringen und sie hat uns geholfen, wenn wir nicht weiterkamen!“. Und an einem Probetag, als es einfach nicht klappen wollte, halfen dann nur noch die Schokoriegel, die Stella Seefried kurzerhand besorgte.
Frischer Wind
Vor allem die letzte Szene des Stücks, in der ausgelassen gesungen wird, machte der Klasse zu schaffen, besonders „an Tagen, an denen man nicht so gut drauf ist oder müde“, betonen die Achtklässler*innen. „Meine persönliche Herausforderung war, mit den Schüler*innen so zu arbeiten, dass sie möglichst viel von sich preisgeben, dass sie frei sein können auf der Bühne“, sagt Stella Seefried. „Ich habe mit ihnen geschaut, wie sie die Beziehungen darstellen können, wie man jemanden spielen kann, der jung ist, wie kann man einen Mann spielen oder die ältere Frau, wie funktioniert das. Und dass es spannend und unterhaltsam wird, auch wenn viel Text geredet wird“. So kamen Einfälle zustande, wie das auflockernde, rhythmische Klatsch-Spiel mit den Kaffeetassen beim Tischdecken für die Geburtstagsfeier oder Oma Gildas Schnaps-Nachschenken in den Kaffee.
Am meisten Spass hatten die jungen Schauspieler*innen ab dem Moment, „als man richtig wusste, was man machen soll“ und als es ans „Spielen mit den Kostümen“ ging. Beim Outfit half in diesem Jahr Ruth Bräutigam. Ohne sie wäre die 8. Klasse „nackt dagestanden“, wie Schülerinnen in ihrer Dankesrede auf der Bühne berichteten. Bereits vorhandene Kostüme aus dem Fundus wurden um farbige Details ergänzt, andere neu genäht. „Jeder war mit seinem Kostüm zufrieden. Es ist der Sinn des Spiels, dass sie ihre Ideen haben und bei den Entwürfen mitschaffen“, sagt die ehemalige RSSK-Lehrerin. Die Mitarbeit einzelner Schüler*innen war auch beim Bühnenbild gefragt, das vor allem von Christoph Steins in den Pfingstferien angefertigt wurde. Ausserdem wurde die Klasse von Musiklehrer Johannes Luchsinger unterstützt, der die Musik zum Dankeslied in der letzten Szene komponierte, von Annette Gönner-Langendörfer, die beim Einstudieren der Tänze half, von ihren Eltern und von zwei Zehntklässlerinnen, die sich um das Licht kümmerten.
Und dann war da noch die Idee mit den Zitaten, die von Stella Seefried kam und von einer Gruppe Schülerinnen umgesetzt wurde…
Durchgeschüttelt vom Orkan
Die Zitate: Sie stehen zwischen den Szenen. Das Licht wird schummrig-blau. Es schafft eine beklemmende Atmosphäre, für das was folgt: Einzelne Schülerinnen lesen Berichte von geflohenen Kindern aus dem griechischen Flüchtlingslager Moria auf Lesbos aus dem Buch „Manchmal male ich ein Haus für uns – Europas vergessene Kinder“ von Alea Horst (1). Auf einem Klemmbrett haben sie nur eine kleine Leselampe, die ihren Text und einen Teil des Gesichts anleuchtet. Manchmal werden sie begleitet von Mitschülerinnen, die das Gesprochene szenisch untermalen. Sie ducken sich, wehren Gefahr mit den Händen ab, ahmen mit das Gesicht umrahmenden Händen stumm Angstschreie nach oder feiern mit einem stillen Jubel, mit hochgereckten Armen die Tore beim Fussball, dem einzigen Lichtblick der Kinder im Flüchtlingslager: „Wenn der Moment kommt und ich ein Tor schieße, dann habe ich eine Minute lang Freude und kann alles vergessen. Es gibt nichts, dass ich die Traurigkeit nicht in mir spüre – nur Fussball.“ (Alireza, 13 Jahre, aus Afghanistan) (2) „Ich wollte unbedingt, dass wir die Stimmen der Menschen, die es betrifft, auch auf die Bühne bekommen. Deshalb haben sich mehrere Schülerinnen intensiv mit dem Buch befasst und die Zitate rausgesucht. Und das dann auch einstudiert“, erklärt Stella Seefried.
Anne Hichert, eine Zuschauerin, berichtet: „Die bewegenden Aussagen geben den anonymen Schicksalen ein Gesicht und verstärken die emotionale Tiefe der Geschichte. Sie erinnern daran, dass hinter jeder Flucht ein persönliches Schicksal und unschuldige Kinder stehen, deren Hoffnungen und Träume auf eine bessere Zukunft gerichtet sind“. Wie für uns diese Einzelschicksale oft verschwimmen und in der Masse untergehen zeigen die Schülerinnen mit der letzten Geschichte von Doaa aus Syrien (2), die sie zu mehreren, nacheinander einsetzend, erzählen. Das Durcheinander an Worten ist auch „ein Sinnbild für das Ertrinken“, so Stella Seefried, und steht direkt zwischen der 7. und 8. Szene, den letzten beiden Szenen des Stücks.
Der Sturm kommt
Die 7. Szene: Was sich von Beginn an in Radioansagen und Gesprächen angedeutet hat, kommt – der Sturm und mit ihm das Unglück. Die flüchtenden Menschen geraten mit Schlauchbooten auf dem Fluss in Lebensgefahr. Eine Situation, die schliesslich die Vorsätze der Figuren auf die Probe stellt und sie zu Stellungnahmen zwingt. Wo Valea und Nikela zuvor dem Ruf der fliehenden Menschen nach der Fähre – ein gelb blinkendes Licht, ein lauter, scheppender Summer – nicht gefolgt sind, können sie nun nicht anders, als ihre ganze Menschlichkeit in die Rettung der Ertrinkenden zu werfen. Es wird schnell auf der Bühne: Valea, Nikela, Pesche, Oma Gilda – sie alle geraten in Aufregung, holen den Rettungsring, holen Seile, holen Lampen, holen Bojen, holen Schwimmwesten. Sogar Oma Gilda rennt so schnell sie kann, die Hände in den schmerzenden Rücken gestützt. Anne Hichert aus dem Publikum ist beeindruckt: „Herausragend ist die Inszenierung der Rettungsszene, in der die mitfühlende Fährmanns-Familie ihre Betten verlässt und sich in die gefährlichen Fluten stürzt, um den Fremden zu helfen. "Über den Fluss" ist nicht nur ein Theaterstück, sondern ein Appell an unsere Menschlichkeit und Empathie. Es regt zum Nachdenken an und fordert uns auf, die Augen nicht vor den Schicksalen der Menschen auf der Flucht zu verschliessen, sondern aktiv zu helfen“.
Stürmischer Applaus
Einen ersten Beitrag hierfür konnten die Zuschauer*innen bei den Aufführungen am Freitag- und Samstagabend leisten: Mit dem Verkauf ihrer Programmhefte sammelte die 8. Klasse Spenden für die Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos. Vor den beiden „offiziellen“ Vorführungen stand wie immer die sogenannte „Schüler*innenaufführung“ am Freitagvormittag, die für viele Achtklässler*innen als Einstieg die schwierigste war, „weil man alle kennt und denkt, dass vielleicht über einen gelacht wird“, wie sie nach der Generalprobe am Donnerstag äusserten. Die Bedenken waren unbegründet. Nicht nur das Publikum, auch Regisseurin Stella Seefried war begeistert: „Ich habe das Gefühl, dass wir das, was uns wichtig war, auf der Bühne darstellen und transportieren konnten und dass es eine runde Sache geworden ist. Ich bin natürlich sehr stolz auf die Schulklasse und das, was da entstanden ist. Sie haben wirklich etwas Grossartiges geleistet in der letzten Zeit, was auch entsprechend belohnt wurde. Bei der letzten Aufführung gab es Standing Ovations, da stand der ganze Saal. Ich glaube, dass das das grösste Dankeschön vom Publikum ist, an die, die auf der Bühne gespielt haben“.
(1) Die Zitate sind entnommen aus: Horst, Alea, Manchmal male ich ein Haus für uns – Europas vergessene Kinder, 2. Auflage, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig, 2022.
(2) Ebd., S. 28.
(3) „Doaa aus Syrien – eine Flucht über das Mittelmeer“ auf: https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/fluechtlinge-erzaehlen/doaa-aus-syrien (abgerufen am 05.06.2024)
Text und Fotos: Anika Mahler